Ein gemütliches altes Lehmhaus in der 1000-Seelen-Gemeinde Neuberg, Bezirk Güssing. Der ungarische Ortsname ist Újhegy, der kroatische Nova Gora. Und die Frau, die hier mit 100 Jahren noch immer allein lebt, würde auf kroatisch Jagica Stekovicka heißen. Agnes Stekovits sitzt unterm Herrgottswinkel und lacht dieses spitzbübische Lachen. Auf dem Herd dampfen gerade ihre selbstgebackenen Salzstangerl aus. Ihr mittlerer Sohn Siegfried (75) und ihre Enkeltochter Birgit samt Ehemann sind auch gekommen. Birgit Karner ist Vizebürgermeisterin im Dorf. Bevor das Interview beginnt, wird Grüner Veltliner kredenzt. Schließlich sind die Geburtstagsfeierlichkeiten für die „Urli“ ausgefallen, da darf man schon einmal richtig anstoßen.
Alles Gute zu Ihrem 100. Geburtstag, Frau Stekovits! Wie haben Sie gefeiert?
Meine Kinder hatten zwei Feiern organisiert. Sogar der Landeshauptmann wollte kommen. Aber dann haben viele Leute abgesagt. Angst vor der Corona! Und dann hab' ich die Corona selber gekriegt, zwei Tage vor dem Hundertsten. Meine Enkeltochter und ihr Mann waren positiv und wollten unbedingt, dass ich testen fahr. Ich wollte nicht, aber bitte. Du gehst gesund hin und kommst krank zurück.
Wie ging es Ihnen?
Ach, es war halb so schlimm. Ich hatte nicht einmal Fieber. Ich war müde und manchmal ein bissel schwindlig. Aber kein Husten oder Halsweh, nur ein lästiger Schnupfen. Gut, dass ich geimpft war. Dreimal schon. Soll ich das ins Mikrofon sagen? Ich hatte die Corona und hab' es überstanden. Ich kann nur sagen: Lasst euch impfen!
Hatten Sie keine Angst vor einem schlimmen Verlauf?
Gar nicht. Mit 100 hat man keine Angst mehr. Selbst wenn ich sterben hätte müssen … Alle Leute müssen sterben und ich vielleicht schon ein bisschen früher als viele andere. - Lacht und nimmt ein Schluckerl Wein. - Ich habe eigentlich nur Angst, bettlägerig zu werden. Und ich möchte nicht ins Heim.
Wie alt wollen Sie werden??
„Du wirst sicher 120“, ruft die Enkeltochter. Frau Stekovits winkt ab. - Ich nehm’s, wie’s kommt. Es kann morgen schon aus sein. Da ist jeder Tag ein Geschenk.
Plagen Sie auch kleine Wehwehchen?
Kreuzschmerzen hab‘ ich immer, damit muss ich halt leben. Und mit dem Hörapparat. Wenn mich wer anruft, dann klappt das nicht mit der Lautstärke. Bis 85 bin ich immerhin noch mit dem Fahrrad gefahren. Heute, mit 100, bin ich froh, dass ich noch aufstehen kann in der Früh.
Wie verbringen Sie den Tag?
Als Erstes koch ich Kaffee. Dann les ich die „Krone“, oft auch die kroatische Zeitung und die „Die ganze Woche“. Ich lese viel, mein Computer funktioniert noch ganz gut. - Klopft sich auf die Stirn. - In der warmen Jahreszeit pflege ich meine Rosen. Sitze auf der Bank vor dem Haus in der Sonne. Ich backe auch noch immer gern. Vor allem Salzstangerl. Die Kinder, die Enkel, die Urenkel, alle lieben sie.
War das Backen und Kochen immer Ihre Leidenschaft?
Wenn ich es mir aussuchen hätte können, wäre ich gerne Schneiderin geworden. Aber eine Lehre konnte ich keine machen, wir mussten schon früh Geld verdienen. Eineinhalb Jahre war ich beim Oberlehrer, dort habe ich 12-Liter-Kübel mit Wasser vom Brunnen ins Haus geschleppt. Es gab früher ja keine Wasserleitungen. Einmal bin ich mit einer Landarbeiterpartie nach Deutschland gegangen, auf eine Landwirtschaft. In Mannersdorf habe ich bei der Getreideernte geholfen, da haben wir uns sehr geplagt. Und später war ich dann Köchin beim Grafen Draskovich in Güssing.
Wie hat er Sie behandelt?
Er hat mich „Frau Agnes“ genannt. Dort ist es mir gut gegangen. Ich musste mich immer beim Kammerdiener melden und dem Herrn Grafen sagen, was ich morgen koche. Am meisten hat er gebratene Schnepfen geliebt. Wir mussten auch die Gedärme der Vögel für ihn kochen, das haben wir dann mit Butter und Zwiebel gebraten und auf die Brötchen geschmiert.
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Lautes Klopfen an der Tür. Die Jägerschaft ist da, man will Oma Stekovits zu ihrem Hunderter gratulieren. Das erlegte Wildschwein wird im kleinen Kühlhaus aufgehängt, das Frau Stekovits den Jägern zur Verfügung stellt. Sie selber mag kein Wild mehr, seit sie beim Grafen Draskovich so viel Wild kochen musste.
Wie viel haben Sie damals verdient?30 Schilling im Monat. Das war sehr wenig. Aber das war früher so. Ich hab das Geld sowieso meinen Eltern gegeben. Sie haben dann manchmal Gewand für mich gekauft.
Nein, ich freu mich. Die Frauen haben heute viel mehr Rechte, das hätte ich auch gerne gehabt. Man hört oft, früher war alles besser. Aber das stimmt nicht. Im Krieg war es furchtbar. Heute ist alles besser. Auch für mich ist heute alles viel leichter.
Welche Erinnerungen haben Sie an den Krieg?
Ich war damals in Sachsen als Erntehelferin. Die Leute haben gesagt: „Es kommt ein Krieg.“ Ich hatte Heimweh und bin Gott sei Dank noch nach Hause gekommen. Da war schon der Hitler da, man musste auf jedes Wort aufpassen, grüßen durfte man nur mit dem Hitlergruß. Ich hab dann auch die russische Besatzung erlebt. Wir Frauen hatten Angst vor den Russen. Wir haben uns versteckt. Ich habe die langen Röcke und Tücher meiner Schwiegermutter getragen, damit sie mich nicht vergewaltigen. Darin hab ich echt alt ausgeschaut, dabei war ich erst 23. So ist mir nichts passiert, ich bin durchgekommen.
Gibt es auch schöne Erinnerungen?
Meine Hochzeit, mitten im Krieg. Der Franz wurde nach dem Tod meiner Schwester Witwer, da hab ich meinen Schwager geheiratet. Er hatte schon ein kleines Mädchen, die Helli. Ich hab sie geliebt wie meine eigenen Kinder. Sie ist leider schon gestorben. Der Franz hat auch so gern getanzt wie ich. Tango, Walzer, nach dem Krieg sind wir manchmal auf Bälle gegangen. das sind die schönen Erinnerungen. Dieses Haus hier haben wir mit unseren eigenen Händen gebaut. Ziegel haben wir selber gebrannt, aus Lehm. Geld haben wir keines gehabt.
Hatten Sie auch Hunger?
Manchmal, ja. Ich denke mir oft, heute geht man zum Billa und holt alles, was man braucht. Damals gab es weder Supermärkte noch Tiefkühltruhen. Wenn wir ein Hendl oder einen Hasen abgestochen haben, mussten wir mit dem Schmalz auskommen. Da haben wir das Fleisch in Gläser eingelegt und mit Schmalz übergossen, damit es haltbar geblieben ist. Fleisch gab es aber höchstens einmal pro Woche. Dazwischen haben wir Bohnensterz gegessen oder Topfennudeln. Und selber Zwetschkenschnaps gebrannt.
23 Jahre nach Kriegsende wurden Sie Witwe. Was ist passiert?
Mein Mann hat auf dem Bau in Wien gearbeitet. Es war zur Silbernen Hochzeit, ich hab gerade eine Nusstorte gebacken, mit der ich ihn überraschen wollte. Da kam die Nachricht, dass er einen tödlichen Arbeitsunfall hatte. Eine Stützmauer ist umgefallen und hat ihn erdrückt. Das war ganz schrecklich, ich bin mit den drei Kindern alleine dagestanden. Heute könnte man die Firma klagen, damals hat sie einen Kranz geschickt, und die Sache war erledigt.
Hinter Ihnen hängt ein Kruzifix und ein Rosenkranz. Hilft der Glaube?
Er tröstet ein bisschen. Aber mit der Wahrheit muss man trotzdem leben. Die Söhne hätten ihren Vater gebraucht. Mein jüngster Sohn hat viel geweint damals. Ich habe dann noch zehn Jahre lang auf dem Feld gearbeitet. Ich hatte ein paar Hendl und Schweinderl. Und hab Kartoffeln und Karotten angebaut.
Wollten Sie nie mehr heiraten?
Ich habe schon Bekannte gehabt.
„Du konntest dich vor Verehrern nicht retten“, ruft die Enkeltochter.
Ich hätte noch dreimal heiraten können, aber ich wollte nicht mehr untertänig sein.
„Du hast dir aber eh nie was anschaffen lassen“, lacht der Sohn.
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Plötzlich fällt Frau Stekovits ein, dass sie nicht schön genug angezogen ist. Sie steht auf und geht ins Schlafzimmer, wo sie ihren blauen Pullover gegen ein rotes Seidensakko tauscht. „In dem hab ich oft getanzt“, lächelt sie und deutet ein paar Tangoschritte an.Wie wichtig ist Ihnen Ihr Aussehen?
Ich schau sehr auf meine Pflege. Mache oft Pediküre und Maniküre. Und ich schmiere mir das Gesicht sehr oft ein. Die Cremes kaufen mir immer die Kinder. Das ist sehr wichtig für die Haut. Und die Frisur muss auch sitzen! Aber manchmal, wenn ich vor dem Spiegel stehe, denke ich mir: Schirch bist geworden!
Welche Frau finden Sie schön?
Die Queen. Vor allem als sie jung war. Sie hat auch Corona. Aber sie wird es wie ich gut überstehen.
Auf den Fotos im Album sind Sie dunkelhaarig. Seit wann haben Sie weiße Haare?
Seit zwei Jahren. Bis 97 hab ich mir die Haare noch braun gefärbt. Aber mit 98 kann man sich die Haare nicht mehr färben. Jetzt sind sie silber, also bin ich noch mehr wert. - Lacht.
Wie bleibt man so frisch?
Immer in Bewegung bleiben! Auch wenn es weh tut.
Und was machen Sie wenn Ihnen was weh tut?
Dann lege ich mir einen Thermophor auf. Und denke mir: Es wird schon wieder. Manchmal hab‘ ich Herzrasen in der Nacht. Dann bin ich in der Früh gerädert und möchte am liebsten liegenbleiben. Aber gerade dann ist es wichtig zu sagen: Du zwingst dich jetzt. Auch wenn es schwer ist. Oder wenn das Herz schon genug hat.
Denken Sie manchmal an den Tod?
Ja, ich denke oft nach. Ich hoffe, der Herrgott lässt mich nicht zu lange leiden. Schnell sollte es gehen, aber das ist nur ein Wunsch. Jedenfalls hab‘ ich so einen Notrufknopf, da kann ich draufdrücken, wenn‘s so weit ist.
Glauben Sie, dass danach noch was kommt?
Ja, da muss was sein. Es kann doch böse Menschen nicht dasselbe erwarten wie gute Menschen. Vielleicht gibt es doch einen Himmel und eine Hölle. Und vielleicht sehe ich dort den Franz wieder. Nicht in der Gestalt, wie wir einmal waren. Sondern auf geistiger Ebene.
Worum geht’s im Leben?
Um Dankbarkeit. Den Leuten geht’s so gut. Aber niemand ist mehr zufrieden. Das macht unglücklich. Ich war immer zufrieden, auch mit wenig.
Frau Stekovits, in der Ukraine ist seit Donnerstag wieder Krieg. Was war Ihr erster Gedanke?
Die Russen. Der Putin. Und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er mit seinen Truppen einmarschiert. Die Menschen haben aus der Geschichte nichts gelernt. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie die Russen abgezogen sind, wie wir freie Menschen waren. Und wie wir wieder alles zusammengebaut haben. Wir alle miteinander. Auch ich hab‘ als Trümmerfrau in Wien geholfen. Jetzt hatten wir so lange Frieden in Europa. Ich habe mir oft gedacht: Hoffentlich bleibt der Frieden… Hoffentlich gibt es nie mehr Krieg. Es ist schrecklich. Dass ich das noch erleb‘.
27. Februar 2022, erschienen in der KRONE