Griechenland muss den Euro verlassen
Thilo Sarrazin

zurück zur Übersicht

bild_01

Provokateur und Bestsellerautor Thilo Sarrazin ("Europa braucht den Euro nicht") spricht mit Conny Bischofberger über Politiker- Lügen, den Betrug der Griechen und sein düsteres Zukunftsszenario.

Freitagabend, noch 48 Stunden bis zur ersten Hochrechnung. Europa schaut nach Griechenland an diesem Wochenende. Sarrazin hebt am Festnetz ab. Er sitze auf der verglasten Veranda seines Arbeitszimmers in Berlin- Charlottenburg, erzählt er, und schaue bei leichtem Wind und bedecktem Himmel in seinen Garten. Brandenburgische Kiefer, große Kastanie, keine Vögel. "Unser weiß- schwarzer Kater Leo fängt hier drei bis vier Mäuse pro Tag."

Die scharfen Thesen des diplomierten Volkswirtes, früheren Finanzsenators und Vorstands der Deutschen Bundesbank erregen Europa. Für seine Fans ist er ein unerschrockener Tabubrecher, der ausspricht, was andere nur zu denken wagen. Kein Euro mehr den Pleitestaaten. Der Euro hat Europa destabilisiert. Und: Europa braucht den Euro nicht - es ist der Titel seines neuen Buches, seit drei Wochen auf Platz 1 der "Spiegel"- Bestsellerliste.

Herr Sarrazin, bereiten Sie sich als Dauergast in deutschen Talkshows auf eine Sendung wie "Im Zentrum" beim Österreichischen Fernsehen eigentlich noch vor?
Oh ja. Obwohl ich ein dickes Buch geschrieben habe, verfolge ich ständig auch die aktuelle Diskussion intensiv weiter und denke immer wieder über die damit verbundenen, grundsätzlichen Fragen nach. Ich zitiere nicht nur aus meinem Buch, das wäre ja langweilig.

Diesen Sonntag entscheiden die Griechen über ihr Schicksal. Glauben Sie, dass die Menschen aus Angst eher die Konservativen wählen oder dem Bündnis der radikalen Linken ihre Stimme geben, weil sie wütend sind?
Ich weiß gar nicht, was für Griechenland besser wäre. Die beiden Parteien, die sich in der Herrschaft lange abgewechselt haben, haben ja gezeigt, dass sie mit den korrupten Eliten, die das Land seit Hunderten von Jahren in der Hand haben, eng verwoben sind. Sie haben Abkommen mit der EU unterschrieben, letztlich die nötigen Strukturreformen im Staat aber nicht vorangetrieben. Der Staatsapparat ist weiterhin riesengroß, und es gab bis jetzt keine Bemühungen, das abzubauen, es gab auch keine anderen Reformfortschritte.

War das Geld, das die EU den Griechen gegeben hat, umsonst?
Die sogenannte Griechenland- Rettung, die wir vorgenommen haben - wenn man alles zusammenrechnet, rund 350 Milliarden Dollar - ist ja im Wesentlichen eine Rettung der griechischen Gläubiger. Auch das muss man klar sehen. Der kleine Grieche, der kleine Mann, leidet unter steigender Arbeitslosigkeit, unter steigenden Abgaben, unter allem Möglichen. Dass sich ein Teil der Griechen jetzt, da die herrschenden Parteien jegliche Legitimation verloren haben, radikalen Rattenfängern zuwendet, ist nicht erstaunlich.

Das harte Sparprogramm, macht es das Land nicht kaputt?
Die meisten haben offenbar gar nicht richtig verstanden, dass sie nicht einfach sagen können: Wir lehnen Spar- und Konsolidierungsprogramme ab und können den Euro trotzdem behalten. Worum es tatsächlich geht bei der Wahl - nämlich will Griechenland weiter beim Euro bleiben - das haben die meisten Griechen gar nicht verstanden, weil sie in einer anderen Welt leben.

Reißt Griechenland uns in den Abgrund?
Die Griechen sind ein Volk von zehn Millionen Einwohnern, das sind drei Prozent der Bevölkerung der Europäischen Union, und sie haben etwa zwei Prozent der Wirtschaftskraft. Daher ist es sicher nicht so, dass sie uns in den Abgrund reißen könnten. Aber es ist bisher schon sehr, sehr, sehr teuer geworden.

Wird Griechenland im Euro bleiben?
Wenn Griechenland weiter an der gemeinsamen Währung festhält, kann es nur dann wirtschaftlich wieder auf eigene Füße kommen, wenn seine internen Kosten und Löhne im Verhältnis zur übrigen Währungsunion um 30 bis 50 Prozent fallen. Dies bedeutet ein viele Jahre währendes "Den Gürtel immer enger schnallen", und das bedeutet Strukturreformen. Zu beidem ist Griechenland als Staat und Gesellschaft - das hat sich gezeigt - weder richtig willens noch in der Lage. Das ist nicht die Schuld des einzelnen Griechen, sondern des Systems, das in Griechenland herrscht.

Sie glauben, die Rückkehr zur Drachme wäre besser?
Ich glaube, dass eine eigene Währung trotz aller Übergangschwierigkeiten für die Griechen besser wäre. Nehmen wir den Vergleich zur Türkei. Da reicht ein einfacher Blick in die Reiseprospekte: Es ist einfach in der Türkei viel billiger und meistens sogar besser. Das liegt daran, dass die türkische Lira in den vergangenen zwölf Jahren - seit der Gründung der Währungsunion - um 80 Prozent abgewertet hat. Dadurch waren die Türken, trotz einer relativ hohen internen Inflation, immer wettbewerbsfähig, während die Griechen in der ganzen Zeit immer wettbewerbsunfähiger wurden und praktisch durch zu hohe Kosten ihre industrielle Basis, die sowieso bescheiden war, weitgehend zerstört haben.

Und wenn sie im Euro bleiben?
Das ist gar nicht mal unwahrscheinlich! Weil ich nämlich Folgendes befürchte: Die europäischen Eliten werden alles tun, damit Griechenland im Euro bleibt. Das bedeutet, dass wir, der Rest der Europäer, vor allem Österreich, Deutschland, Holland und Finnland, also jene Länder, die Leistungsbilanzüberschüsse erwirtschaften, die Griechen Jahr für Jahr mit 30 bis 50 Milliarden Euro unterstützen werden müssen. Das wird ein Fass ohne Boden. So wie Süditalien seit 150 Jahren - ein Gebiet, das ständig Zuschüsse bekommt und nie richtig auf die Beine kommt. Das Verbleiben im Euro wäre für uns, wie auch für die Griechen, die schlechteste Lösung.

Aber ein Ausstieg wäre doch noch viel teurer.
Dieses Argument ist grundfalsch, nämlich aus einem einfachen Grund. Jede Zahlung, die Richtung Griechenland fließt, war schon an dem Punkt verloren, an dem sie ausgelöst wurde. Die angeblichen Kosten sind nichts als eine Bereinigung der Vergangenheit. Aber natürlich sagen die Politiker so was gern, weil sie folgende Angst haben: Wenn sich zeigt, dass ein Land ausscheiden kann und dass das nicht das Ende der Welt ist für dieses Land, da könnte ja die Versuchung wachsen, dass andere Länder sich das irgendwann auch überlegen. Das will man um jeden Preis vermeiden. Weil sich dann zeigen würde, dass die Währungsunion nicht erzwingend nur in eine Richtung geht, nämlich nach vorne.

"Europa braucht den Euro nicht", behaupten Sie. Aber die Wirtschaft braucht ihn sehr wohl.
Das ist der nächste Punkt. Ich habe ja in meinem Buch untersucht, ob es messbare wirtschaftliche Vorteile gibt. Ich sage mit dem allerbesten Gewissen: Es hat sie nicht gegeben. Für die Südstaaten dagegen gab es sogar Nachteile.

Ist das das Geheimnis Ihres Erfolgs? Dass Sie als Europa- Kritiker Dinge sagen, die so vielleicht einfach nicht ganz stimmen?
Ich bin für das europäische Projekt, für europäische Integration und halte die Geschichte des wirtschaftlich integrierten Europa bis zum Jahr 1999 - also bis zum Beginn der Währungsunion - für eine große Erfolgsgeschichte. Sie sind Österreicherin, ich bin Deutscher, irgendwann haben sich mal die Wege getrennt im Jahre 1866, so war es eben. Das ist doch nicht schlimm, wenn wir in unterschiedlichen Staaten und Nationen leben. Wichtig ist, dass wir friedlich miteinander zusammenleben und Vorteile aus der Zusammenarbeit ziehen, wo diese sinnvoll ist.

Aber so kann Europa doch gegenüber China und Amerika nicht bestehen?
Als europäische Wirtschaftsunion ohne Zölle, mit freiem Warenverkehr, sehr wohl. Das ist ja grad das Interessante, dass zum Beispiel Deutschland und Österreich und Finnland gegenüber China glänzend bestehen, weil wir wettbewerbsfähig sind, während die Franzosen, Italiener, Spanier teilweise in diesen Märkten Schwierigkeiten haben oder dort gar nicht vorkommen. Das ist der große Irrtum, dass eine Volkswirtschaft groß sein müsse, damit sie bestehen könne. Wenn das der Fall wäre, da hätte ja die Sowjetunion viel erfolgreicher sein müssen, als die kleinen europäischen Staaten. Das Gegenteil war aber Fall. Der wirtschaftliche Erfolg eines Landes hängt ab von seinem Abgabensystem, vom Fleiß der Menschen, von ihrer Ausbildung, von der Qualität des Staatsapparates. 98 Prozent aller Faktoren, die den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes ausmachen, ruhen in dem Lande selber.

Sie sprechen immer nur von Wirtschaft. Was ist mit Werten wie Solidarität?
Solidarität im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe immer. Aber Europa hat aus der Zerstörung des Krieges bis in die Währungsunion hinein immer so funktioniert, dass man Handel trieb, dass man sich austauschte, dass man gemeinsame Zollgrenzen hatte. Aber jeder war für sich und für die eigenen Reformen im Land verantwortlich - und niemand nahm das Geld des anderen in Anspruch.

Es gab den Marshall-Plan.
Der Marshall-Plan ist ein sehr schönes Beispiel. Griechenland bekam von der EU vor Ausbruch der Krise, also bis zum Jahr 2009, bereits 15 Mal den Marshall- Plan. Griechenland hat nicht das Problem von zu wenig Hilfen, sondern es hat das Problem von viel zu vielen Hilfen. Der Euro war für die Griechen nicht die Lösung, er war das Problem.

Herr Sarrazin, stört es Sie nicht, dass aus vielen Ihrer Argumente die Rechtspopulisten Kapital schlagen?
Ich kenne keines meiner Argumente zum Euro, das nicht von sehr vielen vernünftigen und mitdenkenden Ökonomen genauso gesehen wird. Man soll die Argumente aus ihrem inneren Gewicht heraus bewerten.

Wenn Sie einen Tag lang Europa regieren könnten, was würden Sie machen?
Wäre ich der ideelle europäische Gesamtkommissar und hätte zudem die Prokura des europäischen Rates, dann würde ich mir alle griechischen Parteien - denn die brauchen jetzt wahrscheinlich Wochen, bis sie die Regierung bilden - an einen Tisch holen und sagen: So. Wir haben mit euch ein Programm ausgemacht, das Programm habt ihr bis jetzt zu 95 Prozent noch nicht umgesetzt. Wenn jetzt die Umsetzung nicht sofort beginnt - und ab sofort gucken wir täglich - und ich nicht jede Woche grünes Licht von den von mir entsandten europäischen Beamten bekomme, dann stellen wir alle Zahlungen an. Wir zahlen auch nicht für eure Banken. Ich würde das auch nur einmal sagen, und nicht öffentlich, denn man soll niemandem öffentlich drohen. Und das war's.

Aber dann müssen Sie auch sagen, welche Konsequenzen das für unsere Banken hätte.
Auch wenn dies bedeutet, dass europäische Banken Forderungen an den griechischen Staat oder an die griechischen Banken voll abschreiben müssen: Das ist noch immer viel besser, als jahrzehntelang Geld in ein Fass ohne Boden zu schmeißen.

Unsere Finanzministerin Maria Fekter hat öffentlich erklärt, dass Italien wahrscheinlich als nächstes Finanzhilfen benötigen werde. Sie wurde dafür sehr gescholten. Hat sie einen Fehler gemacht?
Inhaltlich hatte Frau Fekter vielleicht sogar Recht. Taktisch ist es immer gefährlich, wenn einen Politiker im Amt plötzlich öffentlich die Wahrheit überfällt und seinem Munde entflieht. So gesehen war es ein Missgeschick, das ihr passiert ist. Sie sollte jetzt das Beste daraus machen und zu ihrer Aussage stehen.

Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble hat über Sie gesagt: "Entweder redet und schreibt er einen himmelschreienden Blödsinn oder er macht es mit einem verachtenswerten Kalkül." Waren Sie beleidigt?
Ach, wissen Sie, ich halte Wolfgang Schäuble zugute, dass er als viel beschäftigter, gestresster Mann zu dem Zeitpunkt, als er das sagte, das Buch noch gar nicht gelesen hatte. Ich kann nur hoffen, dass er sich auf die Sitzungen des Europäischen Rates gründlicher vorbereitet.

Ihr Zukunftsszenario 2025, wie wird Europa dastehen?
Dazu müsste ich prognostizieren, wie die Politiker weiter entscheiden. Gehen sie den Weg weiter, den sie jetzt eingeschlagen haben, den Weg der Banken- und Schuldenunion, werden sie Länder wie Deutschland und Österreich schwer schädigen. Dann sehe ich eine lange Phase von zumindest steigender Inflation und einer entsprechenden Entwertung unserer Geldvermögen voraus. Oder die Politiker kratzen jetzt die Kurve und sagen: Kehren wir zurück zu den richtigen Prinzipien von Maastricht. Dann wird ein Teil der Euro- Länder - mindestens aber Griechenland - aus der gemeinsamen Währung ausscheiden, weil er dazu nicht stark genug ist.

Und Spanien, Portugal, Italien?
Ich mache für einzelne Länder keine Prognose. Ich sehe nur, dass bislang weder Italien noch Spanien - Portugal ist ein bedauernswerter Sonderfall - und auch nicht Frankreich die politische Kraft finden, die notwendigen Reformen durchzuführen, die man braucht, um in einer Währungsunion gemeinsam mit den starken Nordstaaten zu bestehen.

Schreiben Sie schon an Ihrem nächsten Buch?
Im Augenblick gönne ich mir für meine Lesereisen und auch für Interviews wie jetzt mit Ihnen eine gewisse Auszeit. Aber ich denke, spätestens im Winter werde ich wieder anfangen zu schreiben. Ich werde aber nicht sagen, worüber.

Was ist denn Ihr ureigenes Motiv? Geld kann es ja nach anderthalb Millionen verkauften Büchern nicht mehr sein.
Was ist mein Motiv? Mir persönlich geht es so: Wenn ich einen Gedanken aufschreibe, wird er meist klarer als vorher. Das ist mein Antrieb, Bücher zu schreiben: Mir selbst den Kopf zu klären. Und wenn sich dann noch andere dafür interessieren, auf einem Markt von 85.000 neuen Büchern jährlich, wird es umso schöner.

17. Juni 2012, erschienen in der KRONE