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Mister Kandel, wie geht es Ihnen?
      Schon ein bisschen besser, aber gestern ging es mir wirklich „lousy“. Es  ist vielleicht besser, wenn wir Englisch sprechen, weil mein Deutsch naturgemäß  auf dem Niveau eines Neunjährigen stehen geblieben ist. (Er lacht. Also  switchen wir beim Telefongespräch spontan zwischen Deutsch und Englisch.)  Also, ich habe eine schlimme Verkühlung und liege im Bett. In diesem Zustand  ist es besser, nicht zu fliegen. Ich bin natürlich sehr traurig, dass ich nicht  bei den Feierlichkeiten dabei sein kann. Dieses Haus der Geschichte ist eine  wichtige Sache, weil es Österreich an die dunkleren Seiten seiner Vergangenheit  erinnert.
Woran erinnern Sie sich?
      Natürlich an die Flucht. Ich bin ja mit meinem damals 14-jährigen Bruder  zunächst nach Brüssel gefahren, weil dort schon meine Tante und mein Onkel  waren, und dann von Antwerpen mit einem Dampfer in die Vereinigten Staaten.  Meine Mutter strahlte beim Abschied so viel Zuversicht aus, dass wir uns bald  wiedersehen würden, dass ich überhaupt keine Angst hatte.
Wann hatten Sie Angst?
      In der „Kristallnacht“, zwei Tage nach meinem Geburtstag. Mein Vater  führte ein Spielwarengeschäft am Alsergrund und hat mir ein kleines  Spielzeugauto geschenkt, das man am Boden herumrollen konnte. Am 9. November  sind die Nazis in unser Haus gekommen. Sie haben uns hinausgeworfen, und sie  haben uns alles weggenommen: den Pelzmantel meiner Mutter, die ganzen Bücher  und meine Geburtstagsgeschenke. Auch das rote Spielzeugauto. Ich vermisse es  bis heute.
Sie schreiben in Ihrer Rede, dass Ihr Vater 1938 mit einer Zahnbürste  die Straße vor seinem Geschäft putzen musste und dass Ihre Schulfreunde nicht mehr  mit Ihnen reden durften. Wie kann man so etwas vergessen?
      Man kann es nicht vergessen, aber ich führe in den USA ein so gutes und  privilegiertes Leben, dass der Zorn und die Enttäuschung irgendwann der  Versöhnung Platz gemacht haben. Als ich 2000 den Nobelpreis bekam, riefen mich  viele Leute aus Wien an und sagten: Wunderbar, ein österreichischer Nobelpreis!  Ich protestierte: Das ist ein jüdischer Nobelpreis! 
Wie ist heute Ihr Verhältnis zu Österreich?
      Es hat viele Jahre gedauert, bis sich unsere Beziehung verbessert hat.  Ich verdanke es Persönlichkeiten wie Heinz Fischer, er ist ein wunderbarer  Mensch. Auch die Wissenschaftler Anton Zeilinger und Josef Penninger zähle ich  heute zu meinen Freunden. Aber natürlich bleibt eine Enttäuschung - keine  persönliche -, dass Österreich im Gegensatz zu Deutschland auch nach dem Krieg  nicht gut umgegangen ist mit uns Juden. 
Bundeskanzler Sebastian Kurz hat den Familien von NS-Vertriebenen nun  die österreichische Staatsbürgerschaft angeboten.
      Sehr gut und sehr richtig! Das ist ein vielleicht ein erster Schritt.
Viele Fotos zeigen Sie lachend und mit einer roten Fliege. Wie haben Sie  trotz allem immer Ihren Humor bewahrt?
      Ich trage tatsächlich immer Fliege und ich lache auch gern und viel. Ich  hatte es schwer mit den Nazis, ich wäre in Österreich fast umgekommen, aber  dann war das Leben gut zu mir. Ich bin in den Vereinigten Staaten auf eine sehr  gute Highschool gegangen, später auf die Harvard-Universität, ich hatte eine  phantastische Karriere, ich habe den Nobelpreis gewonnen. Ich kann mich also  nicht beklagen. Ich habe jeden Grund, jetzt glücklich zu sein, und das bin ich  auch.
Sie sind am 7. November 89 geworden. Wie hält der weltberühmte  Gedächtnisforscher seine Hirnzellen frisch?
      Ich habe das auch in meiner Rede gesagt: Das Beste gegen  Gedächtnisverlust im Alter ist Bewegung! Gehen setzt in den Knochen ein Hormon  namens Osteocalcin frei, das direkt ins Blut und dann ins Gehirn wandert.  Deshalb gehe ich jeden Tag zu Fuß in die Arbeit und wieder nach Hause, das sind  täglich zweieinhalb Meilen (vier Kilometer, Anm.). Der Weg führt mich durch  einen wunderschönen Park. Am späten Nachmittag gehen meine Frau und ich dann  noch einmal zwei Meilen (gut drei Kilometer, Anm.).
Sie haben meinem Kollegen Kurt Seinitz einmal gesagt, dass Ihr Herz im  Dreivierteltakt schlägt. Ist das noch immer so?
      Ja, mein Herz tanzt noch immer im Dreivierteltakt. – Beginnt zu  summen. –Wien, Wien, nur du allein!
Was hören Sie, wenn Sie traurig sind?
      Auch da höre ich gerne ein paar Takte Walzer, das stimmt mich gleich  heiter. Aber auch Bach, Beethoven, und natürlich Mozart. Meine Frau und ich  lieben klassische Musik, wir gehen auch zehn- bis 15-mal pro Saison in die  Oper.
Kochen Sie auch österreichisch?
      Meine Frau ist Französin, sie kocht mir kein Wiener Schnitzel. – Lacht.  – Ich könnte es mir selbst zubereiten, aber das ist mir zu aufwendig. Wir haben  hier in New York wunderbare Österreicher, in deren Restaurants ich jederzeit  ein Original Wiener Schnitzel essen kann.
Wann kommen Sie wieder nach Österreich?
      Bestimmt schon bald. Ich komme sehr gerne nach Wien. – Summt wieder. –Wien,  Wien, nur du allein.
11. November 2018, erschienen in der KRONE
  
