„Österreich ist eine kulturelle Großmacht”
Gottfried Helnwein

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Das aufwühlende Bild eines Mädchens am Wiener Ringturm rückt das Thema Missbrauch und Gewalt nach dem Teichtmeister-Prozess erneut in den Mittelpunkt. Mit Conny Bischofberger spricht Gottfried Helnwein über eine „kinderpornographische Epidemie“, sein Bedürfnis, physische und psychische Verletzungen sichtbar zu machen und was Donald Duck damit zu tun hat.

Helnweins Österreich-Büro befindet sich im ersten Stock eines Hauses aus dem 15. Jahrhundert, gleich hinter der Kirche „Maria am Gestade“ im ersten Wiener Gemeindebezirk. Der Meister sitzt an einem quadratischen Holztisch, vor sich ein Bildband, hinter ihm das überlebensgroße Bild eines Mädchens. Links und rechts lehnen Porträts von Keith Richards, Michael Jackson und Andy Warhol an der Wand. Auf einem kleinen Tisch in der Ecke des Raumes „liegt“ ein bandagiertes Kind aus Gips, ein beklemmender Anblick. Helnwein lächelt. Der „Schockmaler“, wie er oft genannt wird, trägt wie immer Stirnband, dunkle Sonnenbrille und fünf Totenkopfringe. Er ist erst diese Woche aus den USA nach Wien gekommen.

Hatten Sie schon Gelegenheit, Ihr Kunstwerk am Wiener Ringturm zu sehen?
Ja, ich bin auf dem Weg hierher vorbeigegangen und war doch erstaunt, wie gut es gelungen ist. Auf der Straße sind Leute auf mich zugekommen und haben sich bedankt.

Das Bild heißt „My Sister“ und zeigt das Gesicht eines offensichtlich verletzten Mädchens. Warum malen Sie blutverschmierte Kinder?
Meine Kunst beschäftigt sich seit jeher mit dem Thema Schmerz. Dieses Bild ist Teil einer Kampagne gegen Gewalt. Ich habe mir kürzlich die „Daily Mail“ im Internet angeschaut. An einem Tag fand ich sieben Fälle von Gewalt an Frauen und Kindern. Kindesmissbrauch ist ein enormes Problem und wird dennoch kaum thematisiert. Ich will mit meinen Bildern die Welt durch die Augen der Opfer sehen. Unsere Gesellschaft rückt immer die Täter in den Vordergrund und leider auch ein gewisses Verständnis für sie. Was Sie auf dem Bild sehen, ist natürlich kein Blut, sondern einfach rote Farbe.

Das Bild trifft mitten in eine Stimmung, die in Österreich seit dem Prozess gegen den Ex-Burgschauspieler Florian Teichtmeister herrscht. Erhält es dadurch eine neue Bedeutung?
Ich habe diesen Fall natürlich in den Medien verfolgt, habe aber zu wenig Informationen, um mich im Detail dazu zu äußern. Es ist Zufall, dass die Verhängung des Ringturms gerade jetzt stattfindet. Aber vielleicht rüttelt es deshalb die Menschen auf. Wir haben es mit einer kinderpornografischen Epidemie zu tun. Kinder werden zu Tode gefoltert, damit sich irgendwelche Arschlöcher daran begeilen können. Das findet weltweit statt, jeden Tag. Und ich sehe nicht, dass Justiz und Politik gewillt oder imstande sind, dagegen vorzugehen.

In Österreich hat das milde Urteil gegen Teichtmeister - zwei Jahre bedingt - Proteste ausgelöst. Verstehen Sie das?
Weltweit platzen zwar immer wieder Kinderschänderringe, es werden hunderte Leute verhaftet, aber es gibt kaum angemessene Strafen. Mit Strafen meine ich nicht „Revanche“. Es geht darum, das Unheil zu stoppen. Wenn einer nicht imstande ist, seine sadistischen Begierden zu kontrollieren, dann muss er das halt in einer Anstalt lernen. Ich kann doch nicht aus lauter Mitleid mit dem Täter das Leben von Kindern und Frauen gefährden. Hier darf es null Toleranz geben. Nur wenn genügend Menschen sagen, wir werden das nicht mehr akzeptieren, entsteht genug Druck, dass die Politik etwas ändert.

Bei Teichtmeister waren es „nur“ Fotos und Videos von Kindern, insgesamt 70.000 Dateien. Macht es für Sie einen Unterschied aus?
Da gibt es viele Schattierungen. Meiner Meinung nach trägt jeder, der an sexueller Gewalt gegen Kinder teilnimmt, egal in welcher Form, zu diesen Verbrechen bei. Aber mir ist der Täter vollkommen Wurscht. Seine psychologischen Probleme sind mir egal. Ich denke an die Kinder. An ihre Würde.

Wird ihre Würde nicht auch verletzt, wenn Sie Kinder blutverschmiert zeigen?
Das glaube ich nicht. Denn meine Bilder sind reine Fiktion. Ein paar Milligramm Farbspuren auf Papier, mit denen ich eine Botschaft überbringe. Meine einzige Absicht ist es, den Menschen die Augen zu öffnen und ihnen bewusst zu machen, dass es dieses Problem gibt. Das kann Kunst. Kunst kann alles. Wenn ich Ereignisse verdränge und nicht bereit bin, mich mit ihnen zu konfrontieren, werden sie sich immer wiederholen. Dann kann kein Lernprozess stattfinden. Im Interesse der Opfer ist es wichtig, schockierend zu sein. Schockiert sind die Betrachter aber nicht von meinem Bild, sondern von dem, was es in ihnen auslöst. Es restimuliert Bilder, die man selber im Kopf hat.

Können Sie das näher erklären?
Bei vielen meiner Ausstellungen treten immer wieder Frauen an mich heran, um sich zu bedanken. Sie sagen, dass sie als Kind missbraucht wurden, das aber völlig verdrängt hatten. Dann hat sie eines meiner Bilder so erschüttert, dass sie gezittert und geweint haben. Offensichtlich berührt meine Kunst gewisse wunde Stellen. Für mich ist Kunst, wenn Menschen, die sich sonst vielleicht gar nicht für Kunst interessieren, plötzlich sagen: „Mein Gott, ist das schön!“ Oder: „Das berührt mich.“ Oder eben: „Das erschüttert mich oder bringt mich zum Nachdenken.“

 

 


 

Wie halten Sie es aus, sich dauernd mit dem Thema Missbrauch zu beschäftigen?
Es ist viel leichter auszuhalten, wenn ich arbeite, als wenn ich vor dem Bildschirm sitze und die Nachrichten höre. So habe ich das Gefühl, ich kann meine Stimme erheben für die Opfer. Was ich mache, kommt aus einer inneren Notwendigkeit. Ich muss das einfach machen, ich habe gar keine andere Wahl.

Dass Sie damit sehr reich geworden sind, ist aber sicher eine angenehme Begleiterscheinung. Richtig?
Ich kann dazu nur eines sagen: Was immer ich in meinem Leben verdient habe, wovon ich und meine Familie heute leben, kommt ausschließlich aus dem Verkauf meiner Bilder. Ich habe nie spekuliert, ich habe nie Subventionen bekommen, ich habe niemals etwas geerbt.

Wie muss man sich Ihre Arbeit mit Kindern vorstellen? Sind da die Eltern dabei?
Unsere Zusammenarbeit ist ganz zwanglos und spielerisch. Natürlich arbeite ich mit den Eltern immer eng zusammen. Komischerweise sind fast alle Kinder, die ich fotografiert und gemalt habe, neun Jahre alt. Das ist eine interessante Phase, in der Mädchen schon viel weiter sind als Buben, aber doch noch nicht erwachsen. Auch das Mädchen auf dem Ringturm ist neun. Für mich stehen diese Kinder als Metapher für das Menschsein, für die Verletzlichkeit und Wehrlosigkeit. Ich glaube, das Bedürfnis, so jemanden zu beschützen, ist ein Urbedürfnis jedes Menschen.

Ihre Bilder sind jedenfalls nichts für schwache Nerven. Sie wurden einst von der Polizei beschlagnahmt und von Unbekannten zerschlitzt. Oft fiel die Bezeichnung „entartete Kunst“. Rechnen Sie jetzt wieder mit Protesten?
Das gehört zu meiner Arbeit dazu, damit habe ich kein Problem. Gegen meine Bilder wurde immer wieder protestiert. Das erste Mal übrigens bei einer Ausstellung im Wiener Pressehaus, bei der „Krone“. Der Betriebsrat hat damals ein Veto eingelegt und ich musste meine Bilder wieder abhängen. In Amerika ist das mittlerweile ganz schrecklich. Da wird alles zensiert. Ein Projekt wie am Ringturm wäre in New York nicht möglich. Für keine Summe der Welt würden die ein Bild von mir am Times Square aufhängen. Das könnte das Geschäft stören.

Sie sind in den 60er Jahren mit Ihrem Freund Manfred Deix von Venedig nach Wien gewandert. Wären seine Karikaturen heute noch möglich?
Die sogenannte „Political Correctness“ raubt uns tatsächlich die Luft zum Atmen. In der Kunst wird mittlerweile so viel zensiert, das kann man sich gar nicht vorstellen. Die ganzen Disney-Filme, von Dumbo bis Dschungelbuch. Bücher werden umgeschrieben, Titel werden geändert. Sicher hätte es Manfred Deix heute ungleich schwerer. Was Deix in Österreich gemacht hat, wäre woanders nicht möglich gewesen. Ich erinnere mich, er war einmal mit seiner Mappe in New York und beim „Penthouse“ haben sie gesagt: „Pah, das ist wirklich gut. Aber Sie werden doch nicht im Ernst glauben, dass das hier in diesem Land jemand drucken würde?“ Die Toleranz gegenüber Kunst in Österreich ist enorm. Ein großes Kompliment!

Ist das der Grund, warum Sie sich mit Österreich wieder versöhnt haben?
Wien war nach dem Krieg die Hölle. Der Zusammenbruch der Monarchie, zwei verlorene Weltkriege, der Holocaust: Das alles hinterlässt Spuren. Es war eine sehr bedrückende Stimmung, die Stadt war schwarz und grau. Aber nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich alles komplett verändert. Dadurch, dass ich lange weg war, habe ich gelernt, Wien mit neuen Augen zu sehen. Mittlerweile ist es die lebenswerteste Stadt, die ich kenne. Die Leute sitzen in Schanigärten und man hat den Eindruck, dass sie die ganze Zeit nur essen und trinken. Ich komme gern nach Wien. Die Dichte an Kultur ist unvergleichlich, Österreich ist eine kulturelle Großmacht. Aber ich genieße es auch, zwischen den Welten zu leben, einmal in Amerika, einmal in Europa. So wird man viel objektiver.

Ein bekanntes Zitat von Ihnen lautet: „Von Donald Duck habe ich mehr gelernt, als von allen Schulen, in denen ich war“. Was denn?
Ich habe die Schulen ja gehasst. Ich hatte das Gefühl, das ist der falsche Platz, hier gehöre ich nicht her. Als Vierjähriger bekam ich mein erstes Mickey-Mouse-Heft mit den Geschichten von Carl Barks über Donald Duck. Das war für mich ein Kulturschock. Ich sah das erste Mal Farben. Für mich war es fast psychedelisch, wie wenn ich in ein anderes Universum eintrete. Ich dachte mir: Da will ich sein. Entenhausen ist meine Welt." Ich glaube, die Kriegskindergeneration könnte sich mit Donald Duck, der eigentlich ein Verlierertyp ist mit seinem dicken Bauch und den kleinen Schultern, viel eher identifiziern als mit irgendso einem Superhelden. Er hat viele berührt - Elfriede Jelinek hat über ihn geschrieben, Peter Handke, H.C. Artmann, Günter Grass.

Sie werden am 8. Oktober 75. Fühlen Sie sich auch so?
Ich fühle mich eigentlich alterslos. (lacht) Wenn ich zurückblicke, greife ich mir an den Kopf, was ich alles gemacht und gesagt habe. Heute habe ich das Gefühl, noch lange weitermachen, noch viel besser und auch radikaler werden zu müssen. Also 15, 20 Jahre brauch’ ich schon noch. Manche Leute haben das Glück, bis ins hohe Alter jugendlich und wach und frisch zu sein. Wie Arik Brauer, ein ganz toller Mensch.

Möchten Sie lieber überraschend sterben oder sich darauf vorbereiten?
Was Sie alles wissen wollen. Das habe ich mir noch gar nicht überlegt. Am besten, wenn ich mich darauf vorbereitet habe, und dann soll es schnell gehen. Von mir aus gern auch im Atelier.

16. September 2023, erschienen in der KRONE